Hin und zurück, wild, wild eye

Wenn ich an meinen 30. Geburtstag zurückdenke, wird Georg Christoph Lichtenberg mit seiner Sentenz, wonach vergangener Schmerz in der Erinnerung angenehm wird, Lügen gestraft. Ich erinnere mich – als wäre es gestern gewesen (vorauseilend: höhö)- an einen melancholischen Tag, an dem ich über das vermeintliche Ende der Jugend seufzte, der Zweier war unwiederbringlich dahin und mit ihm – zumindest in der Vorstellung – der Freifahrtschein für juvenilen Leichtsinn. Natürlich Käse, Leichtsinn im guten, leichten Sinne kann einen immer wieder überfallen, aber jener Geburtstag bleibt auf ewig unangenehm in Erinnerung.

Irgendeine Zäsur dieser Art könnte kürzlich auch die mittlerweile 31jährige Esperanza Spalding befallen haben, anders herum, zurück in die Jugend. Wenigstens hat es den Anschein.

Aber von Anfang an: In wenigen Jahren hat sie es bereits mit Anfang 20 zu einem veritablen Superstarstatus geschafft. Nach einem Umweg über die Geige landete sie mit 15 Jahren beim Bass, mit 16 als Studentin am Berklee College of Music in Boston, mit 20 ebendort als jüngste Professorin ever. Und singen kann sie auch noch.

esperanza 1

Kurz danach rissen sich Legenden wie Wayne Shorter, Pat Metheny und viele mehr um gemeinsame Auftritte. Mit Herbie Hancock trat sie zur Nobelpreisverleihung an Obama auf, zu Ehren Stevie Wonders wird sie ins White House geladen.

Ihre Welt ist eine Mischung aus Jazz, Soul, Fusion, Latino, Funk, Bebop, 2011 und 2013 rauschen die Grammys ins Haus.

Als Folge dieser Erfolge scheinen sich allerdings Zweifel einzuschleichen, alles läuft irgendwie in eine Richtung, die ihr nicht mehr gefällt:

„Irgendwo in den meisten Hinterköpfen steckt diese Philosophie, dass Musik keinen Wert hat, wenn sich keine Karriere daraus ergibt. Also wenn meine Tochter es nicht zu diesen tollen Musikpreisen schafft, warum soll sie es dann machen? Dabei ist es doch so: Was Musik für mein Leben bedeutet, ist so unglaublich viel mehr, als sich an meinen Erfolgen, an meiner Karriere messen ließe. Man mag sagen, ich hätte leicht reden, weil es bei mit derzeit so gut läuft. Aber es war immer so. Es ist wunderbar, wenn die Leute in meine Konzerte kommen. Aber nicht, wenn sie darüber vergessen, wer ich bin, was ich tue, und worin der Wert von Musik überhaupt besteht.“
„Es wird normalerweise nicht nach Talent gesucht. Das ist so selten geworden, weil Begabung nicht das ist, was die Leute anzieht. Es wird nach dem gesucht, was sich verkaufen lässt. Manchmal bekommt jemand eine Förderung aufgrund seines Talents, aber dann wird immer ein Manager kommen, der davon profitieren will. Man muss klar sehen: Wenige Menschen im Musikgeschäft sind daran interessiert, diese Kunstform voranzubringen. Das primäre Ziel ist Gewinn.“
„… was zum Beispiel gerade passiert, ist, dass ich – und ein paar andere – ein Image verpasst bekommen, das in die falsche Richtung führt. Ich bin nicht die Repräsentantin des Jazz. Ich bin nur ein hübsches Mädchen, das Musik machen will.“

Ein Zeit lang zieht sie sie sich etwas zurück, um kürzlich mit einigen Konzerten unter dem Titel „Emily’s D+Evolution“ auf die Bühne zurückzukehren, nun im März 2016 erschien eine neue CD dazu. Ein veritables Musiktheater, Emily und ihre D + Evolution. Emily ist Spaldings zweiter Vorname, der middle name, mit dem sie zuhause in Portland gerufen wird. Durch dieses Alter Ego Emily blickt sie phantasievoll, mit Kinderaugen auf Unconditional Love, Judas, I want it now….

While the songs aren’t about my childhood, I do think Emily has a childlike view of many subjects. Her perspective hasn’t yet been instilled with a cultural dogma.

Der middle name beschreibt, was Spalding versucht, ihre Mitte wieder zu finden. Auf ihrer Homepage sitzen beide einträchtig nebeneinander, Emily und Esperanza. Grund zur Sorge besteht also augenscheinlich nicht.  In „Good Lava“ lautet eine Textzeile „See this pretty girl, watch this pretty girl flow.“
Den Flow begleitet sie musikalisch mit etwas, was keinem Genre richtig zuzuordnen ist. Will sie auch gar nicht, gegen Schubladenkultur hat sie etwas.

“I know everything has to have a category once it’s put onto iTunes.”

Radikal darf es aber schon sein. Es ist einfach Emily`s Musik. Oder wie es in „Farewell Dolly“ heißt: Change the way I see my life. Wild eye, wild eye.

Schauen, hören, staunen:

 

P.S., Erwähnenswert: Begleitet wird sie u.a. von anderen Berklee StudentInnen, z.B. Emily Elbert, die neben der Gitarre auch eine beachtliche Stimme beherrscht.

 

12 Gedanken zu „Hin und zurück, wild, wild eye

  1. doimlinque

    …schon seit längerem hege ich ja den Verdacht, dass Du einen Ausrüstervertrag mit youtube am Laufen hast. Sehe mich jetzt bestätigt…

    Es ist mir – bei allem Beeindrucktsein – am Ende womöglich ein klein wenig zu…gediegen. (Ich ducke mich virtuell schon im Vorraus vor den Donnerschlägen.) Geht bei mir vielen Jazzsachen aus den USA so und liegt bestimmt einfach nur an mir.

    Und die 30 soll so schlimm gewesen sein? Hmmm… Die Zäsuren, an die ich mich viel eher erinnere, haben alle nur indirekt mit Zahlenakrobatik zu tun. So im Sinne von diversen ersten (und auch letzten) Malen, Aus- und Umzügen, Todesfälle und Geburten etc.

    Gruß, d.

    P.S.: Andererseits auch nicht unhip, wenn der Regierungssitz zur Jazzlounge umfunktioniert wird.

    Like

    Antwort
    1. Diander Autor

      …schon seit längerem hege ich ja den Verdacht, dass Du einen Ausrüstervertrag mit youtube am Laufen hast. Sehe mich jetzt bestätigt…

      Hatte ich etwa vergessen, Euch an den Einnahmen zu beteiligen? Ayayay. Aber sei nicht so streng mit den Videos, wenn sie denn schon verfügbar sind, gehören sie zum Appetit machen auch dazu. Andernfalls wäre es ja ähnlich wie mit knurrendem Magen Kochrezepte zu lesen, ohne die Zutaten daheim zu haben.

      …und liegt bestimmt einfach nur an mir

      Sure, woran denn sonst. Im Ernst, gediegen wäre mir jetzt nicht eingefallen, ich finde das schon ziemlich beeindruckend, bin aber zugegebenermaßen von so taffen Frauen, die ihr Ding und ihre Talente durchziehen, generell sehr angetan. Ist so eine Frauensolidaritäts-chose, obwohl die Musik an sich ja eigentlich nichts damit zu tun hat (ich finds also unabhängig davon auch cool). Erlaube mir allerdings den Rückschluss, ohne wirklich im Detail in der Branche Bescheid zu wissen, dass man schon extrem gut sein muss, um sich da derartig durchzusetzen. Wie halt in den meisten Branchen. Und wenn dann noch ein gewisser eigener Kopf hinzukommt, hat man mich im Sturm erobert.

      Like

      Antwort
      1. doimlinque

        Andernfalls wäre es ja ähnlich wie mit knurrendem Magen Kochrezepte zu lesen, ohne die Zutaten daheim zu haben.

        Rrrrrr, food porn, geil!

        …bin aber zugegebenermaßen von so taffen Frauen, die ihr Ding und ihre Talente durchziehen, generell sehr angetan…

        Je nun, das dürfen die auch gerne tun, die taffen Frauen. Über die Musi ist damit noch nichts gesagt. Diese Schlagertrulla, deren Name mir gerade nicht einfällt, zieht auch ihr Ding durch.

        Ist so eine Frauensolidaritäts-chose…

        Oh ja, das kenne ich noch aus der Schule. Da sind die Mädels immer zusammen aufs Klo gegangen.

        Gruß, d.

        Like

        Antwort
        1. Diander Autor

          Über die Musi ist damit noch nichts gesagt.

          Doch, wohl, von mir schon *bissifußstampf*: „ich finds also unabhängig davon auch cool“…. Aber muss ma ja nu wirklich nicht teilen. Kein Donnerschlag, nirgendwo…

          Diese Schlagertrulla, deren Name mir gerade nicht einfällt, zieht auch ihr Ding durch

          Aaah, Du meinst sicher Caterina Valente? Komm, ein Video geht noch, Dir zuliebe, das ist ein schöner Wochenend-Opener, gute Laune guaranteed.

          Like

          Antwort
          1. doimlinque

            Und „bissifußstampf“ wäre jetzt was – die bairische Form von Kartoffelbrei…?

            Diese Schlagertrulla, deren Name mir gerade nicht einfällt, zieht auch ihr Ding durch.

            Aaah, Du meinst sicher Caterina Valente?

            Nein, nein und nochmals: Nein! Auch wenn die ganz zweifelsohne auch taff war/ist und ihr Ding durchgezogen hat. Würde von mir aber niemals nicht mit dem Term „Schlagertrulla“ belegt werden.

            Gruß, d.

            Like

            Antwort
            1. Diander Autor

              die bairische Form von Kartoffelbrei

              Knapp daneben, Beilage ja, tatsächlich wird aber das -> Sauerkraut mit den Füßen gestampft, was dann die gleichnamigen Wadln verursacht. Kräftige Wadln = Krautstampfer

              Nein, nein und nochmals: Nein!

              Ich ahnte, was Du ursprünglich meintest und versuchte sofortige Ablenkung, bevor das böse Wort fällt.

              Like

              Antwort
  2. justrecently

    Ich find’s ja gut, dass nicht nur ich Lichtenberg bei der Minus-Schmerz-Formel widerspreche.

    Zu Esperanza Spalding fällt mir ein, dass sie sich mit ihrer Professur eine inner Unabhängigkeit vom „Unterhaltungsmarkt“ geschaffen hat, die in der Branche halt wohl nicht typisch ist.

    Das schafft eine ganz andere Basis, sowohl für sie als Beobachterin als auch als Akteurin.

    Like

    Antwort
    1. Diander Autor

      Ich find’s ja gut, dass nicht nur ich Lichtenberg bei der Minus-Schmerz-Formel widerspreche.
      Ach, ehrlicherweise habe ich viel zu wenig Ahnung von Lichtenberg und seinen Texten, um da qualifiziert widersprechen zu können. War eher ein kleiner, lustig gemeinter Referrer, der spontan hinzugefügt wurde. Obwohl natürlich inhaltlich nullkommanichts zurückzunehmen ist.

      Zu Esperanza Spalding: Ja, eben diese vermutbare innere Unabhängigkeit und die unbedingte Lust, Musik um der Musik willen zu machen, nicht um des Erfolges willen, finde ich auch sehr beeindruckend und aus der Masse herausragend. Ansteckend und auf mich als Zuhörerin überspringend.

      Like

      Antwort
      1. justrecently

        War eher ein kleiner, lustig gemeinter Referrer, der spontan hinzugefügt wurde.

        Ich weiß auch nichts von Lichtenberg. Aber wenn er mir in der Fußgängerzone mal ein Bein gestellt hätte, würde ihm das hinterher trotzdem sehr leid getan haben.

        Like

        Antwort
        1. Diander Autor

          Da würde ich ihn auch bös angegludert haben, aber so was von. Das hätt er sich sogar im Rückblick nicht als liebreizenden Blick schönreden können.

          Like

          Antwort

Hinterlasse einen Kommentar