Hunger oder Die Mysterien der Nerven in einem ausgehungerten Körper

Der Hunger und die Liebe sind bekanntlich, um ein pseudogescheites Wort des französischen Literaten Anatole France zu paraphrasieren, der im Jahre 1921 mit dem Nobelpreis gewürdigt wurde, die beiden vornehmlichen Triebkräfte aller menschlicher Handlungen. Die Weinbeeren wollen an dieser Stelle dahingestellt sein lassen, ob der Hass – seines Zeichens doch auch ein ziemlich überzeugendes Movens – noch so eben unter die Überschrift „Umgedrehte Liebe“ zu zählen wäre und wo in dieser Liste überhaupt Platz ist für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens, für die sie selbst alles stehen und liegen lassen würden: Originalverpackte Air Jordan- Sneaker im ikonischen 80er Jahre-Design, ein gut eingeschenkter White Russian sowie Mario Kart 8 Deluxe für Nintendo Switch! Dies alles soll, wie gesagt, hier nicht weiter interessieren. Widmen wir uns dafür aus gegebenem Anlass der ersten Unbekannten aus der obigen Gleichung etwas näher, dem Hunger nämlich, mit dem im Titel der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun 1890 einen kurzen Roman vorlegte, der mal eben mir nichts, dir nichts die literarische Moderne einläutete und seinem Verfasser ebenfalls den Nobelpreis eintrug, genau ein Jahr vor Herrn France.   

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Und die Liebe? Oh, die Liebe!

Liebe, Leidenschaft und Schicksal aus luftigen Höhen der Balustraden von Notre-Dame de Paris

„Es gibt nur ein Glück in diesem Leben“, wusste die unter ihrem nom de guerre George Sand berühmt gewordene Pariser Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil gegen Ende ihres langen Lebens zu berichten: „zu lieben und geliebt zu werden.“ So kann man es in der Tat sehen, meinen auch die wie immer auf Romantik gepolten Weinbeeren, aber was heißt denn diese apodiktisch formulierte Sentenz im Umkehrschluss, bitteschön…? Bei Licht betrachtet und zu Ende gedacht folgt aus dem Sandschen Bonmot doch wohl die bittere Einsicht, dass das Schicksal oder wer zum Henker auch immer sehr, sehr viele im Grunde tiefunglückliche Leben auf unserem Erdenrund zu verantworten hat. Denn auf das ewig junge boy meets girl (oder girl meets boy oder girl meets girl oder was der Reigen noch so hergibt) folgt jenseits von Kintopp und Groschenroman das formelvollendende boy gets girl (oder girl gets girl etc.) doch nur im allerausnehmlichsten Ausnahmefall. Die Regel sind dagegen Missverständnisse, Kummer und eine Dauerkundenkarte im Heartbreak Hotel. Und das sogar in der Stadt der Liebe! Oder – müsste man mit Verweis auf die schwindelerregende Fallhöhe anmerken – gerade hier, in Paris, dem einzig denkbaren Mittelpunkt der kultivierten Weltgemeinde. Beispiel gefällig? Gefälliges Beispiel: Die ebendort angesiedelte und in ihren Eckpunkten weltberühmte Fabel von Victor Hugo aus dem Jahr 1831: „Der Glöckner von Notre Dame.“

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Irgendwo in Massachusetts

Erinnern wir uns: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Weltweise Worte, mit denen Leo Tolstoi, der Seher von Jasnaja Poljana, seinen Roman Anna Karenina auf berühmte Art beginnen lässt. Was für ein Eingangssatz! Aber ist auch wahr, was da geschrieben steht und seither unhinterfragt in den Feuilletonwäldern nachgeraunt wird? Ähneln sie sich wirklich so sehr, die glücklichen Familien, und worin unterscheiden sich die unglücklichen denn nun voneinander und was, so fragen die Weinbeeren herausfordernd, ist denn eigentlich Glück, jene ephemere Mixtur aus Seligkeit, Fügung und Sternenstaub…?

Eine handfeste und nicht viel weniger berühmte Ausklamüsierung dieser spielentscheidenden Frage findet sich in Little Women, dem Erstlingsroman der in ebendiesen Feuilletonwäldern notorisch unterschätzten Louisa May Alcott, herausgegeben in zwei Bänden im Jahr 1868 (und damit zehn Jahre vor Anna Karenina – hätte er ja mal aufschlagen können, der alte russische Bartzausel!).

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Prokrastination allüberall

An dieser Stelle hatten die Weinbeeren eigentlich ein paar Zeilen über den guten, alten Ilja Iljitsch Oblomow schreiben wollen, jene lammfromme aber zugleich heillos lebensuntüchtige Ikone der Faultierbewegung. Wie er als junger Landadliger vom väterlichen Gut im fernen Osten nach Sankt Petersburg gekommen war, um die Welt im Sturm zu nehmen und wie er aber dann nach dem Studium und einer Arbeit in der modernen Bürokratiemühle im besten Mannesalter an einen Punkt in seinem Leben geraten war, an dem mit einem Mal jeder Schritt eine Kraftanstrengung, jeder zu beantwortende Brief eine Zumutung und jeder nach Durchführung schreiende Gedankengang ein unüberwindliches Hindernis geworden war. Kurzum, sie hatten davon berichten wollen, wie aus einem jungen Menschen mit guten Anlagen und besten materiellen Voraussetzungen der König der Vorsichherschieber werden konnte.

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…wir hörn se trapsen…

Düstere Seelenlagen allenthalben. Bei Klimawandel, Krieg in Europa und Korona kann man sich schnell den KKK zusammenreimen. Um mit den Blumen des Bösen mithalten zu können, lesen die Weinbeeren heuer Bücher über das Grauen im Doppelpack: To Kill a Mockingbird (Wer die Nachtigall stört) und Go Set a Watchman (Gehe hin, stelle einen Wächter) von Harper Lee verhalten sich durch Inhalt und Form sowie auch durch die Umstände ihrer jeweiligen Veröffentlichung zueinander wie zwei ungleiche Geschwister oder wie die linke und die rechte Rheinseite.

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Nada, niente, tipota… oder: Hossa, hossa!

Philosophieren heißt bekanntlich sterben lernen, aber wenn der Gedankenfluss mal wieder eben so kläglich versiegt wie der Rio Grande im Staub der Wüste, kann womöglich der Blick auf die Konkurrenz dabei helfen, den Lernprozess wieder anzukurbeln. Leitfrage: Wie kratzen denn eigentlich die andern so ab?!? Einen ganz besonders stylishen Abgang legte zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ambrose Bierce hin, für seinen morosen Zynismus bekannter US-amerikanischer Journalist und Kurzgeschichtenschreiber von einigem Renommee. Als dieser nämlich fühlte, dass seine Zeit gekommen sei, schnürte er noch einmal sein Säckel und brach auf gen Süden ins benachbarte Mexiko, allwo gerade eine Revolution tobte, die das Land von Anarchie zu Chaos und wieder zurück taumeln ließ. Ausweislich seiner letzten Briefe an die in der Heimat Zurückgebliebenen schloss sich Bierce dem Zug des famosen Pancho Villa an, und dann machte es irgendwann Plopp! und war mit einem Mal kein Lebenszeichen mehr von ihm zu vernehmen. Der Gringo entschwand in einem schwarzen Loch des Weltgeschehens, danach nichts mehr oder besser: nada…

Die Lücken, die das Leben lässt, werden zur besonders üppigen Spielwiese für die Fabulierfreudigen, und so muss es fast schon Wunder nehmen, dass es bis zum Jahr 1985 dauerte, bis sich endlich ein Romancier dieser Steilvorlage der Geschichte anzunehmen versuchte und sein Garn auf den Markt warf. Der alte Gringo von Carlos Fuentes versucht, eine Abenteuergeschichte um die letzte Reise des vom Autoren offensichtlich bewunderten Bierce zu spinnen. Mit wechselhaftem Erfolg.

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Linkshänder. Ein Torso

Es waren bekanntlich die Vordenker der Frühromantik in Deutschland, allen voran Stan Schlegel und Ollie Novalis, die das Fragment zur geeigneten Textform für jederlei genialische Wortmeldung ausriefen. Blitzgescheit, verspielt, Grenzen unterlaufend, Gedankenräume aufschließend – all dies und noch viele tolle Dinge mehr wurden als vorderste Kennzeichen eines gelungenen Prosasplitters ausgemacht, der rotzfrech die Starre und Luftundurchlässigkeit eines abgeschlossenen Textes zu sprengen wagte. Weiterlesen

Fundstück Erbstück

Lazy Sunday, und beim Aufräumen einer Schublade kommt ein altes Erbstück zum Vorschein, das mir vor vielen Jahren von einer Kollegin zur treuen Verwahrung übergeben wurde. Ich denke, es hätte der Kollegin gefallen, dies anlässlich des Equal Pay Days am 18. März 2019 wieder ans Licht zu bringen.

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Ingolstädter Eiszeit

Victor Frankenstein hat ein Problem: Die Kreatur, die er schuf, rückt ihm nicht mehr von der Pelle. Ihren Anfang hatte die Misere genommen, als der vielversprechende Jüngling aus dem heimatlich-beschaulichen Genf nach Ingolstadt übersiedelte, um am dortigen naturwissenschaftlichen Kolleg die akademische Welt im Sturm zu nehmen. Er hatte Großes vor und in einer stürmischen Novembernacht war es dem angehenden Wissenschaftler sodann tatsächlich mit fiebrigem Ehrgeiz, ein wenig Alchemie und einer Handvoll eigens ausgebuddelter Leichenteile gelungen, ein annähernd menschliches Wesen zusammenzuschustern und zum Leben zu erwecken. Schreck, lass nach!

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Neapel sehen und sterben

In einer durchaus imponierenden Anverwandlung literarisch-kultureller Spitzenleistungen ins oftmals unterschätzte Genre der Popmusik grölte vor Jahren die zwischen gemein und gefährlich oszillierende Fem-Rockikone Britney Spears den ebenso tanzbaren wie griffigen Slogan „I wanna scream & shout & let it all out!!!“ durch die Discolautsprecher dieser Welt. Unterging im – berechtigten – Hype um die Geilheit ihres 4 ½-Minuten-Ballermanns jene Blaupause aus der italienischen Literatur, bei der sich ihr Produzent will.i.am in puncto Geisteshaltung schamlos und unter Missachtung aller einschlägigen GEMA-Auflagen bedient hatte: „Die Haut“, von Curzio Malaparte.

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Verwelktes Glück

Frankreich in den Jahren der Julimonarchie Louis-Philippes I. nach 1830. Dem nicht unsympathischen, wohl aber unbedarft tumben Provinzarzt Charles Bovary passt es gut in den Kram, dass ihm die unter kräftiger Vermittlung seiner Frau Mama zugeschanzte unnahbare erste Ehefrau unter den Fingern wegstirbt: Endlich kann er dem heftigen Werben der jungen Klosterschülerin Emma, die in ihm einen Helden aus einem ihrer Liebesromane zu erkennen meint, nachgeben und das Glück der bürgerlichen Zweisamkeit am eigenen Leib erfahren. Oder so ähnlich. Was sich im Folgenden entspinnt, ist die klassische Erzählung über jenes Hinterher, das einem Damoklesschwert gleich über jedem happily-ever-after dräut.

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There’s a world going on underground

Nichts ist vorbei, wie man es auch wendet und dreht. Jahrhundertelang stellte die Sklaverei ein zentrales Element der nordamerikanischen Gesellschaft dar, zunächst in den Kolonien unter der Herrschaft europäischer Königshäuser und schließlich in den unabhängigen Staaten im Süden der USA. Mitmenschen wurden wie Nutztiere behandelt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Weiterlesen

White quilt

I wonder if the snow loves the trees and fields, that it kisses them so gently? And then it covers them up snug, you know, with a white quilt; and perhaps it says, “Go to sleep, darlings, till the summer comes again.”

Aus Through the Looking-Glass, Lewis Carroll

Schneemützchen

Schneekuss im Abendlicht

Derweil ein guter Schluck geeister Salbeitee anbei…

Salbeieistee

Eine milde Schneegabe an alle in schneearmen Regionen, Grüßle und ein gutes Neues ,

Diander

Simsala Birnbaum basala dusala tot

„Was aus dem Menschen herauskommt“, heißt es in der Bibel, „das macht den Menschen unrein; denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen heraus böse Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Arglist, Ausschweifung, Missgunst, Lästerung, Hochmut, Unvernunft.“ Jene seelischen Untiefen auszuloten nahm sich dereinst Theodor Fontane zum Vorsatz, als er im Jahr 1885 die Novelle Unterm Birnbaum zu Papier brachte. Bluttat aus Raffgier, schwarze Magie und tiefste ostdeutsche Provinz – kein grauenerregender Topos des klassischen Schauerromans wird in diesem Proto-Krimi ausgelassen.

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Tage wie dieser

So, wie es da steht und wie es seither immer mal wieder kolportiert wird, kann es sich schon mal nicht zugetragen haben. Es sei ein Foto gewesen, schreibt der große James Baldwin in seinem Essay ‚No Name in the Street‘, das in ihm den Entschluss habe reifen lassen, nach neun Jahren in Paris wieder in die USA zurückzukehren, um vor Ort seine Stimme für das Civil Rights Movement in den Ring zu werfen. Weiterlesen

Der magnetische Norden

Mit der Mitte ist das so eine Sache, zumal auf einem kugelrunden Erdball wie dem unseren. Wo eine da rechts und links, oben und unten verordnet, erzählt in der Regel mehr über die betreffende Person denn über irgendetwas anderes. Norden, Süden, Osten, Westen – alles ist relativ und jeder Jeck sowieso anders. Weiterlesen

Sanfte kleine Melodeien

Der Mensch ist dasjenige Wesen, das hochkomplexe Geräte – genannt ‚Satelliten‘ – zusammenschraubt und diese unter immensem technischen Aufwand ins All schießt, wo sie auf minutiös berechneten geostationären Bahnen gemeinsam mit der Erde um die Planetachse rotieren und von Rundfunkstationen ausgeschickte Signale empfangen, nur um diese wiederum in die Wohnzimmer der Menschen zurückzuschicken, wo sie sich auf den Fernsehbildschirmen in Form von trashigen Reality-TV-Dramen, Kochsendungen oder Sportschauen, in denen 22 steuertricksende Millionäre das Runde ins Eckige bugsieren wollen, manifestieren. Mit Alfred Polgar gesagt: Der Mensch ist ein pathetisches Tier.    Weiterlesen

Verirrung und Verfall

 

Nirgends strapaziert sich der Mensch so sehr, wie bei der Jagd nach Erholung, deklamierte dereinst Laurence Sterne. Wie recht er damit hatte, erweist sich beim Blick auf den Protagonisten in Thomas Manns Novelle ‚Der Tod in Venedig‘, welcher einen Kurztrip auf den venezianischen Lido zum Anlass nimmt, unfreiwillig aus dem Leben zu scheiden.

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Abghoul

Zum Gedenken

Bei Dame von Welt und von JR war heute zu lesen, dass Abghoul letzte Woche gestorben ist.

Liebe Güte, was für eine traurige Nachricht. Abghoul war einer der außergewöhnlichsten und liebenswertesten Schreiber, den ich -leider nur aus dem Netz- kannte.

Ich erinnere mich, dass er mal schrieb, sein Rabe Travis wäre ganz aus dem Häuschen gewesen. Bei den Raben wird nun Trauer getragen, das Beitragsbild beweist das. Und nicht nur dort. Er fehlt.

Für Abghoul. gttp.

Diander